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Vom Wert der Pause

Ansätze und Methoden in meiner Arbeit mit der Stimme

Wir können uns nicht verändern, wir können nur sehr genau beschreiben, wie wir sind, und dann ändern wir uns.
Leitsatz der CoreDynamik

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Am Anfang stand die Überzeugung, nicht singen zu können. Auch mein erster MusikLehrer am Gymnasium, Heinz Roos, glaubte das von mir, bis zu dem Moment, in dem er hörte, wie ich einen Mitschüler am Klavier begleitete. "Es kann nicht sein, dass du nicht singen kannst!" Mit diesen Worten schickte er den Rest der Klasse vorzeitig in die Pause, um sein bei einer früheren Gelegenheit gefälltes Urteil unter vier Augen zu hinterfragen. Wie durch ein Wunder konnte ich auf einmal singen. Fortan war ich stolzes Mitglied des damals in Bonn hoch angesehenen Schulchors.


Stimme unter Stress
Dass mir unter Stress gewissermaßen die Stimme wegblieb, habe ich dann wieder auf der SchauspielSchule erlebt. Häufig verschlossen sich meine ResonanzRäume, die ModulationsFähigkeit nahm ab und meine Atmung verflachte bis zur Kurzatmigkeit. Das Sprechen wurde zum ermüdenden Kraftakt, Singen war unmöglich. Andererseits erlebte ich immer wieder Situationen, in denen alles stimmte und in denen ich frei über meine AusdrucksMöglichkeiten verfügen konnte. Das weckte in mir den Wunsch, zu verstehen, wie meine Stimme funktioniert.

Balance und Schwingung
Meine erste Sprechtrainerin, Erica Prahl, öffnete mir den Blick für die Komplexität der Zusammenhänge auf diesem Gebiet. Sie schickte mich auch zu Kurt Weinhöppel, einem VollblutMusiker, bayerisch-barocken Original und außergewöhnlichen Lehrer, der Musizieren, Singen und Sprechen als Ausdruck eines KörperEmpfindens vermittelte, dem die Balance und die natürliche, mit dem Atem schwingende Bewegung selbstverständlich sind. Der Einfluss dieses Mannes am Beginn meiner Laufbahn war sehr weitreichend und sein Tod ein schmerzlicher Verlust. 

Stimme als geistige Kraft
In der Begegnung mit dem Musiker und ObertonSänger Christian Bollmann begriff ich dann zum ersten Mal auf anschauliche Weise, dass jeder Ton bereits jeden Ton enthält; ein Phänomen, das meinen Verstand bis heute überfordert. Singend - oder besser gesagt tönend - erfuhr ich, wie sich auf den Grenzen zwischen den vertrauten Vokalen neue Räume öffnen und mehrere Töne gleichzeitig herauskristallisieren können. Wobei vor allem der Geist gefragt ist, also die WahrnehmungsFähigkeit, das VorstellungsVermögen und die UnterscheidungsKraft. Deshalb führt Oberton-Singen auch zu einer größeren Klarheit im Kopf und gilt als eine Form der Meditation. Die Arbeit mit den VokalRaumGrenzen ist ein natürlicher Ansatz für das Oberton-Singen, mit dem sich nebenbei ResonanzRäume und TonUmfang wirkungsvoll erweitern lassen.

Im beruflichen Alltag war ich jedoch weiterhin mit Situationen konfrontiert, in denen ich mich in meinen Möglichkeiten stark eingeschränkt erlebte. Daraufhin befasste ich mich intensiver mit verschiedenen AtemTechniken, wie sie unter anderem beim holotropen Atmen praktiziert werden, das von dem Psychiater Stanislav Grof entwickelt wurde. Sie basieren auf einer forcierten Atmung und der damit einhergehenden Hyperventilation. Diese Art der Atmung führte bei mir regelmäßig zu einer spezifischen Form der Bewusstlosigkeit, in der ich das Atmen weitgehend einstellte. Das brachte mich zwar auf das Thema Ohnmacht (und Macht), führte mich in der konkreten AtemArbeit aber nicht weiter.

Die AtemTypen
Vielleicht hätte mir an dieser Stelle bereits das Wissen um die AtemTypen geholfen, auf das ich erst später gestoßen bin. Obwohl es sich dabei um Wissen aus dem Yoga handelt, war es anscheinend sogar in dieser Tradition, zumindest auf dem Weg in den Okzident, weitgehend verloren gegangen. Von daher verwundert es kaum, dass es bis heute in westlichen AtemSchulen immer noch wenig bekannt ist. Die inzwischen über hundertjährige Ärztin Charlotte Hagena hat es gemeinsam mit dem Musiker Erich Wilk wiederentdeckt. Im Wesentlichen unterscheidet dieses Wissen zwischen Menschen, bei denen die Aktivität und damit die Betonung auf der Einatmung liegt (Einatmer) und solchen, bei denen Betonung und Aktivität auf der Ausatmung liegen (Ausatmer). In der Praxis wird unwissentlich häufiger die Betonung der Ausatmung vermittelt. Einatmer wie ich geraten dabei salopp gesagt leicht unter die Räder.


Richtiges Üben
Weiter brachte mich zunächst die Beschäftigung mit der Methode des erfahrbaren Atems von Ilse Middendorf. Ich erkannte, dass sich sinnvolles Üben in drei Phasen gliedert, die dem Ausatmen, der AtemPause und dem Einatmen entsprechen: Zunächst führen wir die eigentliche Übung aus. In der darauf folgenden Pause beobachten wir, was diese Übung in uns bewirkt. Und abschließend vervollständigen wir unsere Erfahrung, indem wir zum Ausdruck bringen, was wir erlebt haben. Begegnen wir der jeweiligen Phase mit Achtsamkeit und unterscheiden wir sie bewusst von den anderen, löst sich vieles von selbst und wir gelangen zu einer körperlich wie geistig gelassenen Haltung, uns selbst, unserem Tun und dem Leben gegenüber.


Die VokalRäume
Selbstverständlich beinhaltet die Methode des erfahrbaren Atems im Einzelnen noch mehr. Sehr wirkungsvoll und zudem aufschlussreich ist das VokalRaumAtmen. Es lässt den spezifischen Ort eines jeden Vokals im Körper gegenwärtig werden und verdeutlicht eindrucksvoll, wie unser VorstellungsVermögen den VokalKlang prägt. Hier gibt es durchaus BerührungsPunkte mit den erwähnten VokalRaumGrenzen im Oberton-Singen.

Der Ansatz von Ilse Middendorf war (und ist) für mich besonders wertvoll, weil er der Pause so viel Bedeutung beimisst. Sie ist der entscheidende Moment: Indem wir bewusst wahrnehmen, was ist, verarbeiten wir das, was war, und legen den Samen für das, was kommt. Hier geschieht die Veränderung, gewissermaßen von selbst. Die Herausforderung besteht darin, sich der (Atem-)Pause zu stellen, sie bewusst auszuhalten und nicht (ohnmächtig) in ihr zu erstarren. Wir erweitern in der Pause unsere Möglichkeiten, indem wir unsere Aufmerksamkeit auf die Grenze zwischen zwei AtemZügen richten.

Die Bedeutung der Pause
Anschaulich wird das am Beispiel einer einfachen praktischen Übung, in der wir eine AtemPause willkürlich ausdehnen: Erstens führt es in eine sich stetig verschärfende, körperlich spürbare Krise, so lange wir die neue AtemBewegung nicht zulassen. Zweitens bestimmt der Umfang der Pause den Umfang der neuen AtemBewegung. Natürlich beeinflusst diese Bewegung wiederum den Charakter der nachfolgenden neuen Pause. Die entscheidenden Dinge ereignen sich jedoch nicht, während wir in Bewegung sind, sondern in der Pause. Als Dreh- und AngelPunkt bietet sie uns Gelegenheit, sowohl zurück als auch nach vorn zu blicken, während sich die Gestalt der nächste Bewegung abzuzeichnen beginnt.

Wer sich auf diese Übung tiefer einlässt, entdeckt in der Pause Freiräume, sie nicht nur quantitativ sondern vor allem qualitativ zu gestalten, und damit auch die Qualität der sich aus ihr ergebenden Handlung. Ein entsprechendes Beispiel in der Musik ist die berühmte Pause vor den letzten beiden Amen in Georg Friedrich Händels Oratorium Messias.

AtemKrisen und LebensKrisen
Was auf die AtemKrise zutrifft, lässt sich auf andere Krisen übertragen; sie entstehen, wenn wir die Bedeutung von Pausen missachten, vor allen Dingen deren Qualität. In scheinbarer Aktivität gefangen oder auch in Ohnmacht erstarrt sind wir dann nicht mehr in der Lage, eine anstehende Veränderung zu erkennen. Je länger wir eine notwendige Veränderung hinauszögern, desto größer wird der eigentliche HandlungsBedarf. Am Ende sind wir überfordert. Spätestens dann sprechen wir von einer Krise.

Im erfahrbaren Atem nach Ilse Middendorf wartet der Übende in der Pause darauf, dass die Einatmung von selbst wiederkommt. Damit liegt die Aktivität tendenziell auf der Ausatmung, dennoch fühlte ich mich als Einatmer hier lange Zeit zu Hause, weil diese Art der AtemArbeit sehr sanft verläuft und Achtsamkeit in ihr eine so große Rolle spielt. Heute weiß ich, dass ein Quasi-Verbot, aktiv einzuatmen, mich letztlich nicht weiterbringen konnte, und dass die Pause vor der Ausatmung ebenfalls bedeutsam ist.

Die Psyche
Nachdem sich die Middendorf-Arbeit für mich erschöpft hatte, wusste ich nicht, wohin ich mich wenden sollte. Ich hatte jedoch beobachtet, wie bewusstes Atmen und erst recht der damit verbundene stimmliche Ausdruck Gefühle auslösen konnten, bei anderen und in zunehmendem Maß auch bei mir selbst. Damit war etwas ins Spiel gekommen, dem ich sehr ambivalent gegenüberstand; die Psyche und mit ihr die Psychologie und die Psychotherapie. Einerseits war mir dieser Bereich aus der TheaterArbeit durchaus vertraut, andererseits sah ich ihn sehr skeptisch, weil ich unschöne Erlebnisse in meiner Jugend damit verknüpft hatte. Begriffe wie Trauma, Verdrängung und Abspaltung waren mir jedenfalls geläufig. Und ich begann mich zu fragen, ob es in meinem Leben einschneidende, prägende Erlebnisse gegeben hatte, an die ich mich nicht mehr erinnern konnte oder wollte.


Das GeburtsTrauma
Mit meinem Hang zur Gründlichkeit suchte ich dort, wo der individuelle Charakter unseres Atems grundlegend geprägt wird: bei unserer Geburt. Hier nehmen wir unseren ersten Atemzug. Und die Bedingungen, unter denen wir das tun, bestimmen die Art und Weise, wie wir das tun. Diese Prägung ist so tief, dass wir sie für den Rest unseres Lebens behalten. Wir können sie erkennen und beschreiben und dadurch ihre Qualität verändern. Hier liegt unsere Freiheit. Die Prägung selbst bleibt bestehen, sie ist die Blaupause unseres Lebens. Das zeigt sich schon bei der Ausprägung des AtemTyps, der bereits mit der Geburt feststeht. (Nur in seltenen Grenzfällen kehrt sich die typische AtemDynamik im Lauf des Lebens um.)


KörperTherapie und Psychotherapie
In dieser Deutlichkeit konnte ich das damals allerdings noch nicht erkennen, zumal es sich um ein AußenSeiterThema handelte und die Bedeutung der geburtlichen (und vorgeburtlichen) Prägung erst später im wissenschaftlichen Mainstream ankam. In der Psychologie und Psychotherapie hatte der Körper bis zu diesem Zeitpunkt ohnehin kaum Beachtung gefunden; KörperTherapie war etwas für Exoten. Umgekehrt war mir bei den KörperTherapeuten aufgefallen, dass sie meistens ziemlich hilflos reagierten, wenn ihre Arbeit bei Klienten psychische Prozesse auslöste. Vor diesem Hintergrund war ich einigermaßen orientierungslos und dementsprechend glichen meine nächsten Schritte einer kleinen Odyssee. Die einzelnen Stationen auf den beiden Kontinenten Psychotherapie und KörperTherapie möchte ich hier nicht beschreiben. Sie brachten es aber mit sich, dass es am Ende wenig gab, was ich nicht ausprobiert oder zumindest im Ansatz studiert hatte, und dass ich mich in der humanistischen Psychologie ganz gut auskenne.

Bewusstes und Unbewusstes
In der Summe hat mich diese Zeit gelehrt, dass es durchaus möglich ist, verdrängte traumatische Erlebnisse konkret wieder zu erinnern, dies für einen HeilungsProzess aber nicht zwingend notwendig ist. Es kommt viel mehr darauf an, die Muster zu erkennen, die unser Leben bestimmen, und sie möglichst präzise zu beschreiben. Was meine eigene Geburt betrifft, weiß ich bis heute nicht ganz genau, wie sie tatsächlich verlaufen ist. Es gibt jedoch eine Reihe von Details, die mir bei Übergängen im Leben mit schöner RegelMäßigkeit begegnen. Dazu gehört, dass ich Enge empfinde und nicht weiß, wie ich aus ihr heraus komme. Die Lage scheint dann aussichtslos und ich fühle mich ohnmächtig. Inzwischen habe ich gelernt, in solchen Momenten einfach eine Pause zu machen; also mich selbst und diese Situation zu akzeptieren, möglichst ruhig und entspannt zu bleiben und auf das zu schauen, was gerade ist. Die Lösung kommt immer. Meistens sieht sie völlig anders aus, als ich erwartet habe, und etwas Neues wird geboren. Es geschieht jedoch immer erst dann, wenn ich alle Vorstellungen, Erwartungen, Wünsche und Befürchtungen losgelassen habe.


Verdrängung ist Schutz
Das ist jedes Mal ein kleiner Sterbeprozess und leichter gesagt als getan. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, bis ich den Tod als Kehrseite der Geburt und damit genauso zum Atem gehörig annehmen konnte. Der Eindruck, ohnmächtig zu sein, versetzte mich in bestimmten AugenBlicken so sehr in Angst und Schrecken, dass ich es vorzog, im eigentlichen Sinn des Wortes ohnmächtig zu werden. Unter den drei möglichen FluchtReaktionen wählte ich unbewusst die des angesichts der Schlange paralysierten Kaninchens. (Dies ist die einzig mögliche Reaktion, wenn bei einer Geburt nichts mehr weitergeht.) Ich konnte dem Tod und dem damit verbundenen Verlust der Kontrolle über mein Leben lange Zeit nicht ins Auge sehen. Weitere medizinische Einzelheiten, auf die ich hier nicht eingehen möchte, legen den Schluss zumindest nahe, dass ich mich während der Geburt kurzzeitig mit meiner eigenen NabelSchnur strangulierte und vom Atmen abschnitt. In der darauf folgenden Bewusstlosigkeit (Ohnmacht) habe ich mich dann vermutlich wieder so weit entspannt, dass sich das Knäuel lösen und mich freigeben konnte.


Die AtemMatrix
Ob es nun genau so oder anders war, spielt letzten Endes keine Rolle. Eine „normale" physische Geburt fordert den kleinen Menschen bis zum Äußersten und ist aus rein physiologischen Gründen immer mit extremer Enge und hohem Druck verbunden. Und diese Erfahrung steht später als Matrix hinter jedem AtemZyklus, jedem Übergang, jeder Veränderung, jeder Krise, die wir im Leben zu bewältigen haben, unabhängig davon, ob uns das bewusst ist oder nicht. Ausschlag gebend für unser Verhalten in solchen Situationen ist unsere Bewertung dieser UrErfahrung, die SchlussFolgerung, die wir aus ihr gezogen haben.


Eine individuelle Krise
Aus meiner persönlichen GeburtsMatrix und der damit verbundenen verzögerten Einatmung lässt sich mit geübterem Blick heraus lesen, dass ich Spätentwickler bin. So setze ich erst seit ein paar Jahren meine eigene Stimme wirklich kreativ ein. Obwohl sie beruflich und privat mein ständiger Begleiter war und ich durchaus den Eindruck hatte, mit ihr kreativ zu sein, habe ich meiner Stimme erst sehr spät den Raum gegeben, sich richtig zu entfalten. Den Entschluss dazu fasste ich - wie sollte es anders sein - in einer Krise, in der ich wegen gesundheitlicher Probleme gezwungen war, Pause zu machen. Ich schaute zurück und auf einmal kamen Dinge in mein Blickfeld, denen ich bis dahin wenig oder überhaupt keine Beachtung geschenkt hatte. Darunter war ein wiederkehrender sehr eindrucksvoller Traum, der mich zum Singen aufforderte. Zum Glück war mir die Bedeutung von Krisen bereits klar und auch die Notwendigkeit, in ihnen Konsequenzen zu ziehen. Wenn ich nicht ernsthaft krank werden wollte, musste ich handeln. Also suchte ich mir einen GesangsCoach; die Sängerin, Schauspielerin, Tänzerin und Therapeutin Elke Cordes. Bei ihr ließ ich alle Erwartungen, Normen und Konventionen hinter mir und erlebte zum ersten Mal, was es heißt, völlig frei zu singen. Und ich meine hier, wirklich und wahrhaftig frei; ohne Noten oder vorgegebene Melodie das auszudrücken, was ich im jeweiligen Moment wahrnehme. Mit schöpferischer Urgewalt quoll auf einmal ein unermesslicher Reichtum an AusdrucksMöglichkeiten aus mir heraus.

Stimme als Energie
Nachdem ich diese Quelle entdeckt hatte, stellte sich die Frage, wie sie sich fassen lässt. Schließlich sind Quellen sehr empfindlich; sie können versiegen, wenn wir ihre Fassung verändern. Was war also die geeignete Form, um dieser Energie Ausdruck zu verleihen? Bald zeigte sich, dass sie einen Rahmen brauchte, der ihr sehr viel Raum und größtmögliche Freiheit ließ, vor allem die, beliebig viele und beliebig lange Pausen zu machen. Bei jedem Versuch, mir die Grenzen enger zu setzen, zog sich die Kraft zurück. Bis heute hat sich daran nichts geändert und ich akzeptiere das: Es ist mir momentan nicht wichtig, vorgegebene Melodien, Lieder oder gar Arien zu singen.

Am Ursprung der Kommunikation
Meine Stärke liegt woanders. Die Unvoreingenommenheit und Offenheit von Elke Cordes ermöglichte mir eine weitere wichtige Erfahrung. Gemeinsam gingen wir zurück bis zum Ursprung des Singens und damit auch des Sprechens; dem Bedürfnis nach Kommunikation, dem Wunsch, sich mitzuteilen, auszutauschen und zu verbinden. Wir taten das, was viele Musiker - vor allem im Jazz - am liebsten tun; wir improvisierten miteinander. Das kannte ich schon vom Theater und ich hatte es ebenfalls immer geliebt. Doch singend zu improvisieren, ist viel unmittelbarer, kreativer und intensiver.

Auf eindrucksvolle Weise hat sich dies bestätigt, als ich Bernhard Mack, dem Begründer der CoreDynamik, begegnet bin. Ich hatte zum ersten Mal den Mut gefasst, vor einer größeren Gruppe zu improvisieren, da setzte er sich spontan an den Flügel und begann ein Zwiegespräch mit mir. Für dieses Erlebnis bin ich ihm außerordentlich dankbar. Es hat mit dazu beigetragen, dass ich mich entschloss, die Ausbildung an seinem Institut zu absolvieren. Dafür waren allerdings noch zwei weitere Gründe ausschlaggebend.


Die Seele
Ich hatte die Jahre über immer wieder mal mit dem Gedanken gespielt, mich zum Therapeuten weiterzubilden. Bei genauerer Betrachtung waren mir die einzelnen Ansätze jedoch immer unvollständig vorgekommen. Den körpertherapeutischen Methoden fehlte meistens eine brauchbare LandKarte für die Psyche, den psychotherapeutischen meistens ein tieferes Verständnis für körperliche Zusammenhänge und Funktionen. Wenn ein Ansatz beide Elemente vereinte, blieb das wesentliche dritte immer noch ausgespart; die Seele. Das war vermutlich dem falschen naturwissenschaftlichen SelbstVerständnis geschuldet, das unsere Kultur dominiert und das davon ausgeht, alles sei beweisbar, und was nicht bewiesen ist, existiere nicht. Eigentlich ist das eine unwissenschaftliche Haltung, denn sie ignoriert, dass jede noch so exakte Wissenschaft von unbewiesenen Voraussetzungen ausgeht. Sie kann ohne das Unbewiesene - wie etwa die Axiome in der Mathematik - überhaupt nicht existieren, geschweige denn zu wirklich brauchbaren Antworten gelangen.

Das gilt genauso für die Psychologie, die den Begriff der Seele bereits im Namen führt, ihre Existenz aber - wohl aus dem genannten Grund - lange Zeit völlig ausgeblendet hat. (Im Altgriechischen bedeutet Psyche interessanterweise Atem, Leben, Seele und Bewusstsein.) Erst seit ein paar Jahren sind Stimmen hörbar, die auf dieses Defizit aufmerksam machen.

Die Kreativität
Was auch immer wir im Einzelnen unter dem Begriff Seele verstehen, im Wesentlichen geht es um eine schöpferische Kraft, die über unser Ich hinausreicht, sich von unserem Verstand nicht erfassen und mit Worten allein nicht beschreiben lässt. Diese Kraft ist allgegenwärtig, unzerstörbar und in dem Moment spürbar, wo wir sie zum Ausdruck bringen. Sie ist Kreativität pur.

Ich hatte immer an sie geglaubt, es hatte mir jedoch die Gewissheit gefehlt, dass sie ein Teil von mir ist, vielmehr ich ein Teil von ihr. Diese Gewissheit hatte ich nicht dort erlangen können, wo man die Seele überhaupt nicht wahrnahm. Erst die von Bernhard Mack entwickelte CoreDynamik hatte auch die beiden noch fehlenden Elemente bereits integriert, als ich sie kennenlernte: Die Seele und die Notwendigkeit, ihr in kreativer Weise Ausdruck zu verleihen. Damit hatte die CoreDynamik gegenüber allen anderen mir bekannten Ansätzen einen entscheidenden Vorsprung. Heute bin ich ihr oder vielmehr den Menschen, die hinter ihr stehen, in tiefer Dankbarkeit verbunden. Die Begegnung mit ihnen hat mich darin bestärkt, mein Wissen über die Stimme in die Welt zu tragen.


Theater und Rituale
Mit dem Abschluss meiner Ausbildung in CoreDynamik hatte sich der Kreis jedoch keineswegs vollständig geschlossen. Nach wie vor gab es zwei Fäden in meinem Leben, deren Enden offen und unverbunden waren. Auf der einen Seite stand meine unerlöste Liebe zum Theater, auf der anderen mein Wissen um den Wert von Pausen, Übergängen und WendePunkten sowie die Tradition, sie mit Hilfe von Ritualen zu gestalten. Bei den alten Griechen waren diese Enden noch verbunden. Theater hatte bei ihnen einen ausgeprägt rituellen Charakter und die mit einem Ritual einhergehende Katharsis (Reinigung) galt als seine zentrale Funktion. (Daran hat schon der einflussreiche französische TheaterMann Antonin Artaud in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts erinnert.) Rudimente des Chors in den klassischen griechischen Tragödien sind in Griechenland mit den Gesängen der KlageWeiber bis in die jüngste Zeit überliefert worden. Doch dieser Brauch würde vermutlich auch in Vergessenheit geraten, wenn er nicht von so engagierten Menschen wie dem griechischen Sänger und Psychotherapeuten Jorgos Canacakis wieder belebt würde. Als einer der ersten und kreativsten auf diesem Gebiet ist er inzwischen nicht mehr der einzige, der Rituale zum festen Bestandteil seiner therapeutischen Arbeit gemacht hat. Auch im Mainstream sind sie längst angekommen.


Die Balance von Inhalt und Form
Die vielleicht größte Herausforderung im Umgang mit Ritualen ist es, die Balance zu wahren zwischen der Form und ihrem Inhalt, der Kreativität im weitesten Sinn. Wohin es führt, wenn wir diese Balance verlieren, demonstriert die katholische Kirche für uns am offensichtlichsten. Die Gefahr, hier in die eine oder andere Richtung abzugleiten, besteht jedoch immer. Auch das hat mit unserer Matrix zu tun.

Die Befreiung der Kreativität
Als jemand, der das Schöne, Ästhetische und Harmonische genauso liebt wie das rhythmisch Wiederkehrende, bin ich ein großer Freund von Ordnung und Formen. Andererseits sind mir starre Strukturen ein Gräuel. Sobald sie mir den Raum nehmen, meine Kreativität zu entfalten, erlebe ich sie als gewaltsam. Diese Gewalt hat bei mir lange Zeit Ohnmacht oder Wut ausgelöst. Es hat eine Weile gedauert, bis ich merkte, dass Ohnmacht und Wut zwei Seiten der selben Medaille sind und als ohnmächtige Wut - wie Ein- und Ausatmung - stets im DoppelPack daher kommen. Dabei war die Ohnmacht für mich immer salonfähig gewesen, die Wut dagegen nicht. Ich hielt sie so lange für schlecht und verwerflich, bis ich erkannte, dass es sich bei ihr um den SchutzMechanismus der Kreativität handelt. Seitdem gelingt es mir zunehmend besser, meine Wut in eine Art heiligen Zorn umzuwandeln. Wut ist ein zerstörerische Aspekt der Kreativität, Zorn ein liebevoller.

In Kenntnis meiner Matrix weiß ich also, wie wichtig für mich und meine Kreativität große Freiräume sind. Daher rühren meine Abneigung gegenüber einem Zuviel an Formen, Methoden und Konzepten und mein Bedürfnis, sie - gewissermaßen mit heiligem Zorn - von allem überflüssigen Ballast zu befreien und auf ihre Ursprünge zurückzuführen. Das gilt auch für die zwei Säulen meiner Arbeit, das Theater und die Therapie. Dass beide ihrem Ursprung nach zusammen gehören, wusste ich bereits vor meiner coredynamischen Ausbildung. Anderen war es längst gelungen, diese Säulen unter einem Dach zu vereinen. Jetzt musste ich sie auf meine Weise verbinden, was mir zu diesem Zeitpunkt wiederum noch nicht klar war. Erneut kam der Impuls von einem anderen Menschen und seinem individuellen kreativen Ausdruck; dem Sänger, JazzMusiker und TheaterKomponisten Jens Thomas.


Kreativität braucht einen Rahmen
Einer meiner engsten Freunde hatte mir Dinge von ihm berichtet, die mich aufhorchen ließen: Da arbeitete jemand mit der Stimme und löste so anscheinend bei anderen Menschen tiefere Einsichten aus. Das musste ich mir anschauen. Gleich zu Beginn beeindruckte mich der Mut dieses Mannes, weitestgehend ohne Konzept vorzugehen. So etwas hatte ich noch nicht erlebt. Von wenigen Übungen zum Aufwärmen abgesehen bestand unsere Aufgabe im Wesentlichen darin, auf der Basis eines rudimentären Rituals mit unseren Stimmen zu improvisieren. Darauf kann in der heutigen Zeit nur ein JazzMusiker kommen. Der rituelle Rahmen, den er vorgab, hatte einen theaterähnlichen Charakter und bezog die Seele mit ein. Daraus ergaben sich für alle Beteiligten intensive Prozesse mit teilweise kathartischen Erfahrungen, an deren Ende tiefere individuelle Einsichten standen. Ich selbst erkannte, dass mir bereits alle Mittel zur Verfügung stehen, um das zu tun, was ich schon immer tun wollte; Menschen in einen archaisch-theatralen Raum geleiten, in dem sie sich vertrauensvoll mit ihrer schöpferischen Kraft verbinden und ihr einen lebendigen Ausdruck verleihen können.


Kreativität ist ein GrundBedürfnis
Schöpferisch zu sein, ist ein menschliches GrundBedürfnis, dessen allgemeine Anerkennung noch aussteht. Deshalb bleibt dieses Bedürfnis häufig ungestillt, mit vielschichtigen und weitreichenden Folgen, auch in unser gesellschaftliches Leben hinein. Hier möchte ich neue Freiräume schaffen.

Links:
Christian Bollmann: www.lichthaus-musik.de
Die AtemTypen: www.hagena.info
Erfahrbarer Atem nach Ilse Middendorf: www.atemtherapie-middendorf.de
Elke Cordes: www.elke-cordes.de
CoreDynamik-Institut: www.coredynamik.de
Jens Thomas: www.jensthomas.com

Quellen und Rechte der Abbildungen:
Abb. 1: Winslow Homer: Mädchen auf einer Schaukel
Werk: Public Domain
Reproduktion: Flicker-User kaldari;
CC-Lizenz CC BY 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.de
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:WLA_hmaa_Winslow_Homer_Girl_on_a_Swing.jpg

Abb. 2: Georg Friedrich Händel: Messias; Schluss mit Pause vor dem Amen
Werk: Public Domain
Noten: Choral Public Domain Library www.cpdl.org
http://www0.cpdl.org/wiki/index.php/Messiah,_HWV_56_(George_Frideric_Handel)

Abb. 3: Leonardo da Vinci: Der vitruvianische Mensch
Werk: Public Domain;
Reproduktion: ClipDealer-User janana;
Lizenz: Clipdealer-KundenLizenzVertrag
http://de.clipdealer.com/photo/media/A:3440442

Abb. 4: Dürrkamnitz-Quelle
CC-Lizenz CC BY-SA 3.0
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:D%C3%BCrrkamnitz_Quelle_bei_der_M%C3%BCndung.jpg

Abb. 5: Adi Holzer: Lebenslauf
Verwendung und Veränderung durch den Urheber und RechteInhaber freigegeben unter der Bedingung, seinen Namen zu nennen;
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Adi_Holzer_Werksverzeichnis_850_Lebenslauf.jpg?uselang=de

Autor: Martin Ruthenberg
Veröffentlicht: 08.10.2013
Aktualisiert: 18.01.2016

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