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Der Weg der Stimme

Obwohl ich ihn nicht persönlich kennengelernt habe, betrachte ich Michael Vetter als einen geistigen Vater, was meinen Weg mit der Stimme angeht. Ich wüsste ihn nicht treffender zu beschreiben als er es 1987 getan hat in seinem Buch mit Lyrik und Kalligrafien "Wenn Himmel und Erde sich wieder vereinen - Gedanken, Meditationen, Übungen zum Weg der Stimme":

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Sänger sein

Sänger zu sein!
Sänger wie Orpheus,
der durch die Schönheit
seines Gesanges
die Wesen der Schöpfung
untereinander versöhnte,
indem sie sich von ihm
in ihren unnennbaren Sehnsüchten
angerührt, bewegt, erhört fühlten
und gemeinsam vor ihm
zu Hörern wurden.

Sänger sein
heißt die Schöpfung preisen.
Die Schöpfung preisen
heißt sie erhören:
sie als Schwingung aufnehmen,
unverstellt,
und sie reflektieren
als Geist aus Geist,
sie per-sonieren lassen
kraft der Inkarniertheit des Geistes
in menschlicher Person.

Sänger sein heißt,
sich ganz als Stimme realisieren,
als Stimme Gottes, die sprach: es werde,
und es ward.

Sänger werden heißt
mündig werden und hörig.
Mündig in Hörigkeit,
hörig in der Mündigkeit des Geistes.

Sänger sein heißt
die Sprache aufgehoben haben
in die Sprachlichkeit
des existierenden Seins.
Sprechen nicht um zu gewinnen,
um sich etwas einzuhandeln,
sondern sprechen als Weise,
als Lied des Seins.
Was immer Weise sein mag, ist Lied,
ist Gesang, ist Dasein.

Sänger sein heißt
die Lust des Habenwollens
in die Lust des Seinlassens verwandeln,
heißt Friede als Schöpfung realisieren.

Sänger sein heißt
die Sprache des Seins verkörpern,
an der alles Lebendige Anteil hat,
um sich von hier aus
eines Geistes mit ihm zu fühlen
und sich entsprechend
musikalisch zu er-leben.

Sänger sein heißt
der Welt
zur Freude an sich selbst zu verhelfen.

Sänger sein heißt
seine Erfüllung darin zu finden,
mit Nichts als Schwingung zu spielen.

Sänger sein heißt
die Schöpfung innen
mit der Schöpfung außen
in immer neuer Weise
in Auseinandersetzung zu bringen
und zu vereinen.

Sänger sein heißt
die Schöpfung feiern.

Sänger sein heißt
die Macht
ins Hören hinein transzendieren.

Sänger sein heißt
das Leben genießen.

Sänger sein
heißt noch lange nicht singen.
Singen
heißt noch lange nicht
Sänger sein.

Sänger sein heißt
Bewegung schlechthin
als Musik realisieren.
Sänger sein heißt
sich bewegen
und sich bewegen lassen.

Sänger sein heißt hörend existieren.
Sänger sein heißt
im Atem die Schöpfung rauschen hören.

Sänger sein heißt:
dem Schöpfer in sich selbst lauschen
mit allertiefster Sehnsucht
bis hinein ins Allerunscheinbarste.

Sänger sein heißt
Sonntage in Alltage
und Alltage in Sonntage verwandeln.

Sänger sein heißt
sich hingeben als Instrument.
Sänger sein heißt
sich hergeben als Stimme.
Sänger sein heißt
in der Schwingung Gott glauben.

Sänger sein heißt
Hunger, Krankheit und Tod
hungernd, krankend und sterbend
als Lieder erschwingen.

Sänger sein heißt
eingehen in den Schrei des Todes
und ihn erhören als Lied des Lebens.

Sänger sein heißt singend lieben.
Sänger sein heißt liebend singen.


Quelle: Michael Vetter in "Wenn Himmel und Erde sich wieder vereinen - Gedanken, Meditationen, Übungen zum Weg der Stimme", Integral Verlag, Wessobronn 1987, S.117 - 121;

Ich habe die NachlassVerwalterin von Michael Vetter Natascha Nikeprelevic Anfang August 2022 in einer eMail um Erlaubnis gebeten, diesen Text hier veröffentlichen zu dürfen. Sie hat mir bestätigt, meine eMail erhalten zu haben, sie in der Sache allerdings noch nicht beantwortet. Ich erlaube mir deshalb bis auf Weiteres diese Veröffentlichung.


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